chez del - hat star wars iii gesehen
Montag, 11. März 2002
11. März 2002 um 19:36:58 MEZh

„Am 11. September ist nichts Epochales geschehen“

In was für einer Welt bitte leben wir? In einer seltsam verdrehten, in der die Dinge nicht mehr sind, was sie einmal waren oder was sie einmal hätten sein sollen, in der sie ihre Grundcharakteristika verloren haben, in anderen Worten: „Wir haben heute Kaffee ohne Koffein und Bier ohne Alkohol. Wir haben virtuellen Sex: Sex ohne Sex. Politik wird immer mehr zu Administration: Politik ohne Politik. Und wenn Colin Powell den ‘Krieg ohne Opfer’ verspricht haben wir Krieg ohne Krieg. Der Gipfel ist eine Realität, die sich nicht anfühlt wie eine Realität“.

Sagt Slavoj Zizek, slowenischer Psychoanalytiker und Philosoph, der am Sonntag einen provokant-pointierten Vortrag über „Globalisierung und Gewalt – Perspektiven nach dem 11. September“ im Wiener Volkstheater hielt. In unserer entarteten Welt ist es für Zizek kein Wunder, dass eine dramatische Manifestation der „realen Realität“ wie der Kollaps des World Trade Centers von uns (TV-Zusehern) wie Fiktion, wie der ultimative Special-Effect wahrgenommen wird. Nur so sind wir laut Zizek in der Lage, dieses Ereignis einzuordnen, zu schubladisieren: als Albtraum. Realitätswahrnehmung durch Realitätsverlust!?

So weit, so paranoid und paradox. Zu den Attacken auf das „Symbol des virtuellen Geldhandels, die Twin Towers“ und dem nachfolgenden Krieg gegen Afghanistan erinnert uns Zizek eindringlich, „dass dieser Konflikt hausgemacht ist: Afghanistan ist eine Konstruktion, es entstand durch willkürliche Grenzziehungen der Kolonialmacht England. Und die USA leisteten durch finanzielle Spritzen an die Taliban Geburtshilfe.“ Dementsprechend sind der momentane und für Zizek auch alle kommenden religiösen oder ethnischen Konflikte „das natürliche Ergebnis, der natürliche Begleiter des globalisierten Kapitalismus.“ Sofort stellt sich die Frage, ob der Protagonist in diesem Spiel – die USA – überhaupt ein wahrhaftes Interesse an der Demokratisierung der Welt hätten. Ist es nicht im Gegenteil so, dass beinahe ein Aufatmen spürbar war, als mit den Terroranschlägen endlich wieder greifbare, einfach zu zeichnende (wenn auch unsichtbare) Bösewichte, Hassobjekte auftauchten: Al-Quaida. Taliban. Islam. Schwarze Bärte. Selbstmordattentäter. Wer und vor allem was sind diese Menschen? Für Zizek sind es „Ausgeschlossene, die moderne Variante des römischen ‘homo sacer’: Rechtlose, denen nicht zu helfen ist, die ohne Konsequenz getötet werden können“. In dieses Bild passt hervorragend jener Ausspruch von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, das Ziel der Bombardements sei, „so viele Taliban wie möglich zu töten“. „War es nicht früher so“, fragt Zizek rhetorisch, „dass Kriege die Kapitulation des Feindes zum Ziel hatten?“

Ein verstörendes, Paradoxon ist für Zizek in diesem Zusammenhang die „humanitäre Hilfe“. Nicht nur die Soldaten seien rechtlose Kreaturen, sondern die gesamte Bevölkerung: Der Westen, der sowohl die Rolle der kriegsführenden Partei als auch die des Roten Kreuzes einnimmt, degradiere sie zu passiven Hilfsempfängern, ob sie nun wollen oder nicht. Auch hierzu ein Politikerstatement, Tony Blair: „Wir werden sie bombardieren müssen, um ihnen humanitäre Hilfe bringen zu können“. Apropos Doppelmoral: Wenn westliche Experten – egal ob „linke“ oder „rechte“ – darüber nachdenken, „ob wir nicht den einen oder anderen vielleicht etwas Wissenden Terroristen foltern sollten, obwohl das eigentlich gegen unseren Wertekanon ist, dann ist das scheinheilig. Wenn wir schon grausame Dinge tun müssen – und das müssen wir zweifellos – dann sollten wir auch dazu stehen und es beim Namen nennen.“

Zurück zum 11. September: Nach diesem medialen event war es „in“, zu sagen: „Von nun an wird nichts mehr so sein wie früher“. Das ist für Zizek eine leere Phrase, die niemals ausformuliert wurde (was genau wird sich ändern?). Zizeks konsequente und ausformulierte Geste lautet nun: „Am 11. September ist nichts Epochales geschehen." Für Zizek war die Proklamation einiger hundert israelischer Reservisten vor einigen Wochen das wahrhaft epochale Ereignis: Die Soldaten stellten fest, dass sie nicht mehr länger ein ganzes Volk unterdrücken und misshandeln wollten. Das war „höchst moralisch, außerordentlich, bewundernswert und authentisch“; bei uns wirkte es, wenn überhaupt, wie Fiktion, wie eine kitschige Seifenoper.

In der Vorlesungsreihe „Globalisierung und Gewalt“ werden kommenden Sonntag Jean Baudrillard und am 7. April Alexander Kluge sprechen. Näheres unter www.volkstheater.at. Und einen Artikel von Slavoj Zizek, der unmittelbar nach den Anschlägen in der „Zeit“ veröffentlicht wurde ("Willkommen in der Wüste des Realen"), gibt es hier

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